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11.8.11

Im Mai, im Mai schrie der Kuckuck

Borcherts Kriegsheimkehrer aus der Kurzgeschichte Im Mai, im Mai schrie der Kuckuck

Mein Text:


Borcherts Kriegsheimkehrer sehnen sich oft nach der Zeit der Kindheit. Dies gilt auch für die Geschichte Im Mai, im Mai schrie der Kuckuck. Der Protagonist erlebt ein „Kuckucksschicksal“. Die Handlung spielt im Mai, also im Monat der Kapitulation Deutschlands. Der Protagonist hat die krankhafte Imagination, „von der Mutter verstoβen zu sein“. Er fühlt sich so einsam wie der Kuckuck, der seine „Einsamkeit schreit“. Deswegen bezeichnet der junge Mann sein Schicksal als „Kuckucksschicksal“ – es handelt sich um die Einsamkeit, also um das Schicksal der Heimkehrer seiner Generation. In der Geschichte werden die Auswirkungen des Krieges auf die Psyche gezeigt. So wird die Nervenspannung entladen.

Der junge Mann denkt über verschiedene Monate nach. Die Monate führen bestimmte Assoziationen vor Augen: die Novembernächte in den vereinsamten mausgrauen Städten, Märzmorgenschreie, novemberträchtige Lokomotivenschreie, die Klarinettenschreie an Septemberabenden, Aprilschreie der Katzen, die einsamen januareisigen Schreie (Borchert 1947: 267-268). Aber Mai ist ein besonderer Monat: auch im Mai hört man überall Geräusche, die man auch in anderen Monaten hört, aber hinzu kommt der Kuckuck, der den Heimkehrer an seine Einsamkeit, an sein Ausgeschlossensein, an sein Aufdemwegsein erinnert. Er will vor diesem Schrei fliehen, ihn nicht mehr hören, aber dies erweist sich als unmöglich, denn dieser Schrei ist wie ein pochendes lebendiges Herz, Der Kuckuck macht dich verrückt (Borchert 1947: 268), Der Kuckuck lacht dich aus, wenn du fliehst (Ebenda: 269). Denn er weiβ, dass der Heimkehrer nicht fliehen kann, dass er keine Zuflucht finden kann. Der Heimkehrer ist allein, er ist mit seinem „Weltschmerz“ einsam. Ihn begleitet nur die Sehnsucht nach Liebe. Er sieht den Kuckuck als einen brüderlichen Vogel (Borchert 1947: 269), weil er auch einsam ist, weil er seine Einsamkeit besingt. So kann der Heimkehrer sich mit dem Vogel identifizieren: er ist ebenso „verstoβen“, ebenso „ausgesetzt“. Beide „Brüder“ sehnen sich in der Geschichte nach der Liebe der Mutter, die für Liebe und Geborgenheit steht. Der Schrei des Kuckucks bekräftigt den Eindruck der Einsamkeit des Heimkehrers. Er wirft zu Recht die Frage auf, ob die Dichter das Alleinsein aussprechen können. Es erweist sich als unmöglich – das Gefühl des Ausgeschlossenseins ist wie ein glühendes Skalpell, das durch Stein dringt.

Nicht einmal die Dichter mit ihrem ausgefallenen Wortschatz sind im Stande, die Einsamkeit der Heimkehrer zu besingen. Keine Worte können sie wiedergeben, kein Vokabular kann sie zur Anschauung bringen. In der Geschichte äuβert Borchert seine Meinung dazu, wie er die Sorgen seiner Generation zu Feder bringen will. Er hat keine Metaphern parat. Die Dichter sollten die Wirklichkeit literarisch verwirklichen, indem sie auf extravagante Ausdrucksmittel verzichten. Nur eine karge Sprache bezeugt eine Art von Respekt für die Kriegsleiden der Menschen. Um dies zu erreichen, müssen die Dichter die Wirklichkeit so beschreiben, wie sie ist: wie man einen Schuh macht, einen Fisch fängt und ein Dach dichtet. Sie sollten vor den wahren Vokabeln der Welt (Borchert 1947: 269) nicht fliehen und die einfachsten Ausdrucksmittel verwenden. Seine Gedanken spricht der junge Heimkehrer aus: wer weiβ einen Reim auf das Röcheln einer zerschossenen Lunge, einen Reim auf einen Hinrichtungsschrei, wer kennt das Versmaβ, das rhythmische, für eine Vergewaltigung, wer weiβ ein Versmaβ für das Gebell der Maschinengewehre, eine Vokabel für den frisch verstummten Schrei eines toten Pferdeauges, in dem sich kein Himmel mehr spiegelt und nicht mal die brennenden Dörfer, welche Druckerei hat ein Zeichen für das Rostrot der Güterwagen, dieses Weltbrandrot, dieses angetrocknete blutigverkrustete Rot auf weiβer menschlicher Haut? (Borchert 1947: 269-270).

Die Gedanken des Heimkehrers kann man in Borcherts Manifest finden. Den Sprachduktus für die Erlebnisse seiner Generation kann er nur in karger, einfacher Sprache finden. Sprachdekor soll fehlen. Die Kargheit der Sprache wird bei Borchert zum Stilprinzip. Er postuliert die Abwendung von der rein literarischen Sprache. Der junge Mann in der Geschichte weiβ, dass die Literatur an grausamen Kriegserfahrungen nicht vorbeigehen kann. Die Dichter können über den Krieg nicht so leicht hinweg. Sonst würden sie die Glaubwürdigkeit der Literatur beträchtlich unterhöhlen. Der Heimkehrer ist fest davon überzeugt, dass die Dichter den Stoff für ihre Werke dem Leben entnehmen werden. Es wäre allerdings verfehlt, zu glauben, dass die Literatur das Schicksal der Heimkehrer völlig wiedergeben kann: der junge Mann weiβ, dass literarische Werke von lakonischer Kürze sind im Vergleich zum wahren Leben. Die Versuche, ein Buch über die Kriegserlebnisse zu verfassen, beschreibt er als tollkühn und sinnlos (Borchert 1947: 270). Er weiβ jedoch, dass die Dichter trotzdem versuchen werden, einen Sprachduktus zu finden, der dies zum Ausdruck bringen könnte. Verzweifelt bezeichnet er das Leben als Sisyphusseiten (Borchert 1947: 271). Diese Äuβerung lässt Bedenken aufkommen, ob der Heimkehrer sich noch irgendwann in der Welt zurechtfinden kann. Es stellt sich heraus, dass er in Kontakt zu anderen Menschen nicht treten kann. Er ist menschen- und weltfremd.

Der Mai, der Frühling ist die Zeit der Wiedergeburt, des Erblühens der Welt, aber der Heimkehrer fühlt sich nur einsam, er hat ein Fremdlingsherz (Borchert 1947: 270). Das Land, in das er zurückgekehrt ist, ist nicht mehr sein Land. Er kann sich nur an bessere Zeiten erinnern, mit denen höchstwahrscheinlich die Zeit der Kindheit gemeint wird. Sein beklemmendes Gefühl der Einsamkeit kann er nicht ausschreien: niemand will ihn anhören. Von dieser Situation lässt sich eines der Probleme der Heimkehrer aufrollen: es handelt sich nämlich um die Gesellschaft, die die Heimkehrer nicht aufnehmen kann. Der junge Mann ist einsam, er beneidet die Menschen in der Straβenbahn, die bestimmt das Ziel ihrer Reise kennen. Sie wissen, dass sie ihr Ziel erreichen. Sie haben weder Hunger noch Heimweh (Borchert 1947: 271), im Gegenteil zum jungen Heimkehrer, der kein alltägliches Leben leben kann. Der Anblick der zerstörten Heimat muss ständig seine Kriegserinnerungen evozieren. Er ist sich dessen bewusst, dass die Menschen in der Straβenbahn an alltägliche Angelegenheiten denken. Der Krieg gehört nicht mehr zu ihren Interessen und sie benehmen sich, als ob nichts geschehen wäre. Sie haben Mittel (...) gegen Heimweh und Hunger (Borchert 1947: 272) und können sich so geborgen fühlen. Kein Kuckucksschrei erinnert sie an grausame Erlebnisse, kein Kuckucksschrei bedrückt ihr Gewissen. Es sind Menschen, die in ihrem Familienleben glücklich sind, die ein normales Leben führen, deren Alltag im krassen Widerspruch zum grauen Heimkehreralltag steht: Ein verheirateter Straβenbahnschaffner hat womöglich einen kleinen Garten, einen Balkonkasten oder er bastelt für seine fünf Kinder Segelschiffe (Borchert 1947: 272). Andere Menschen haben keine Angst, der Kuckucksschrei dringt in ihr Bewusstsein nicht, sie erzählen der Generation ihrer Kinder von Kriegsleiden nicht. Der Heimkehrer gehört der Straβe, die Straβenbahn fährt ab. Er kann sich ins geborgene Zuhause nicht begeben, die Straβe muss ihm all das ersetzen, wonach er sich sehnt: Die Straβe ist ihr Himmel, ihr andächtiges Schreiten, ihr toller Tanz, ihre Hölle, ihr Bett (mit Parkbänken und Brückenbogen), ihre Mutter und ihr Mädchen. Diese grauharte Straβe ist ihr staubiger schweigsam verläβlicher Kumpel, stur, treu, beständig. (...) Diese Straβe ist ihre Verzagtheit und ihr abenteuerlicher Mut (Borchert 1947: 273-274). Andererseits bedeutet die Straβe Einsamkeit, weil die genannten Aspekte nur scheinhaft sind: auf der Straβe gibt es keine hilfreiche Hand, nur der Schrei des Kuckucks, des einsamen Vogels, ist zu hören.

In der Stadt, in die der junge Mann zurückgekehrt ist, wohnen tausende Menschen. Trotzdem ist er vereinsamt in der millionenfenstrigen Stadt (Borchert 1947: 274). Nur selten ist ein Fenster offen für ihn. Auf seine Sehnsucht reagiert eindlich eine Frau: ihr Fenster ist offen. Endlich spürt er die Nähe eines anderen Menschen, endlich ist jemand zuvorkommend zu ihm. Er ist jedoch nicht bereit, sich der Frau zu nähern, ist erschrocken und denkt an den Kuckuck, den man nachts hören kann. Die zwischenmenschlichen Beziehungen können für ihn nicht in Betracht kommen, er kann sich nur in seine Eigenwelt einspinnen. Dies bekräftigt den Eindruck des Alleinseins, so macht sich sein Ausgeschlossensein bemerkbar. Einen direkten Kontakt zu der Frau empfindet er als eine hautnahe Bedrohung. Er muss die erwartete Männerrolle verweigern. Er kann der Vorstellung vom Mann dieser Frau nicht entsprechen. Wegen gestörter seelischer Verfassung kann der Heimkehrer nur flüchtige Kontakte mit Frauen etablieren. Er kann keine normalen Beziehungen zu Frauen entwickeln. Die Annäherung erweist sich als unmöglich.

Die Gedanken der Frau kreisen um das Alter des Mannes: Er ist höchstens zwanzig (...) Er ist viel zu jung (Borchert 1947: 278). Vor Müdigkeit schläft der Mann schnell ein. Am nächsten Tag ist er sich dessen bewusst, dass die Frau eine andere Reaktion von ihm erwartet hat. Er erzählt ihr über die Kriegserfahrungen und sagt ihr, dass er dank ihnen ein Mann und nicht mehr ein Kind ist. Im Krieg, im Kampf auf den Schlachtfeldern ist er zu einem Mann geworden. So lässt er keine Bedenken aufkommen: er ist ein Mann, der harte Erfahrungen hinter sich hat. Im Krieg hat er aufgehört, ein Kind zu sein. Damals ist die ungetrübte Zeit der Kindheit zu Ende gegangen. Weiter erinnert er sich an den Morgen, an dem er mit seinen Altersgenossen die Heimat verlassen musste, um in den Krieg zu ziehen. Er erinnert sich an den Abschied von seinen Eltern, die jetzt, nach dem Krieg wahrscheinlich tot sind. Nach der Rückkehr nach Deutschland hat niemand auf ihn gewartet. Wie schon erwähnt, haben die meisten Heimkehrer ihre Familien verloren und der Staat hat sich um sie nicht gekümmert. So kann der junge Mann nur Gott Vorwürfe machen, weil niemand ihn anhören will: dann fluchten wir in den Himmel, in den taubstummen Himmel: Und führe uns niemals in Fahnenflucht und vergib uns unsere MGs, vergib uns, aber keiner keiner war da, der uns vergab, es war keiner da (Borchert 1947: 283). Auch wenn er seine Kriegserfahrungen beschreiben möchte, kann er kein entsprechendes Vokabular finden: denn uns fehlen die Vokabeln, um nur eine Sekunde von ihm wiederzugeben, nur für eine Sekunde (Borchert 1947: 283).

Jetzt, nach dem Krieg, ist der junge Mann unterwegs. Er träumt von einer anderen Welt, von einer utopischen Welt, in der man die Dinge beim Namen nennen könnte, in der man jedes Ding so bezeichnen könnte, wie es ist, in der keine Worte fehlen würden, um die Erlebnisse, die Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Er träumt von einer Welt, in der die Heimkehrer Hilfe vom Staat bekommen würden, in der die Öffentlichkeit ihr Problem nicht ausgrenzen würde, in der die Gefühle nicht unterdrückt würden, in der man die jungen Menschen um ihr Schicksal, um ihre Zukunft nicht betrogen hätte: Und die neue Stadt, das ist die Stadt, in der die weisen Männer, die Lehrer und die Minister, nicht lügen, in der die Dichter sich von nichts anderem verführen lassen, als von der Vernunft ihres Herzens, das ist die Stadt, in der die Mütter nicht sterben und die Mädchen keine Syphilis haben, die Stadt, in der es keine Werkstätten für Prothesen und keine Rollstühle gibt, das ist die Stadt, in der der Regen R e g e n genannt wird und die Sonne S o n n e (Borchert 1947: 285).

Er träumt von einer Welt, in der der grausame Kriegsmechanismus und seine Konsequenzen die Menschen nicht in Verzweiflung treiben würden: die Stadt, in der es keine Keller gibt, in denen blaβgesichtige Kinder nachts von Ratten angefressen werden, und in der es keine Dachböden gibt, in denen sich die Väter erhängen, weil die Frauen kein Brot auf den Tisch stellen können, das ist die Stadt, in der die Jünglinge nicht blind und nicht einarmig sind und in der es keine Generäle gibt (Borchert 1947: 285). Hier spricht Borchert die unmittelbaren Konsequenzen des Kriegs an.

Es sind jedoch nur die Träume des jungen Mannes: das Ende der Geschichte sieht so wie die Ausgangssituation aus: Der Schluβ ist dann so wie alle wirklichen Schlüsse im Leben: banal, wortlos, überwältigend (Borchert 1947: 287). Der Heimkehrer steht einsam auf der Straβe, seine Seinsleere enthüllt sich, als er seinen Blick auf die graue Stadt richtet. Er empfindet den „Weltschmerz“ und auch der Gedanke daran, dass er nie wieder nach Russland muss, stellt keinen Trost dar, weil er so wie Beckmann „drauβen vor der Tür“ steht.

QUELLEN:

Primärliteratur:

BORCHERT, Wolfgang (1947): Im Mai, im Mai schrie der Kuckuck. In: Das Gesamtwerk, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt Taschenbuch Verlag 2009.

1 komentarz:

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